Russland - 2. Teil
12.04.2019 – 17.04.2019
Wir stehen vor der weissen Moschee in Bulgar, in der Republik Tatarstan, Russische Föderation. 1993 wurde diese Moschee zur 1000 jährigen Erinnerung an die ehemals mächtige und reiche Stadt Bulgar errichtet. Bulgarische Muslime kamen schon in der Frühzeit der Islamisierung über das schwarze Meer und die Wolga an diesen Handelsplatz und verbanden ihn mit der Seidenstrasse. Timor der Schlächter, aus den weiten Steppen Usbekistans war ungehalten über die Verweigerung von Tributzahlungen, so lies er die Stadt und seine Bewohner vernichten. (ca. 1545) Das ist so Gründlich ausgeführt worden, dass sie erst im letzten Jahrhundert bei archäologischen Forschungen wieder zum Vorschein kam.
Auf dem Gebiet dieser Stadt sind einige Objekte wieder hergestellt und zu besichtigen. Wir begnügten uns mit einem Blick durch das Südtor und verloren das Interesse als wir feststellten, dass die etwa fünf Ausgrabungsobjekte hunderte von Metern auseinanderlagen.
Das Brotmuseum in der Nachbarschaft reizte uns mehr. Weniger wegen dem Brot, sondern wegen der guten Darstellung von Getreideanbau, Verwertung und Handel an der Wolga. So gibt es eine Windmühle und einen Bauernhof zu besichtigen, wie sie von russischen Einwanderern vor 150 Jahren errichtet wurden. (Die Baupläne der Mühle brachte Peter der Grosse aus Holland mit) Der Bauernhof wird für die Besucher real durch eine Familie bewirtschaftet. Sehr detailgetreu ist ein Haus eines Grossbauern oder Handelsherrn hergerichtet und zu bestaunen.
Vor der Weiterfahrt besuchen wir die Hafenmole am Handelshafens. Alles ist noch im tiefen Winterschlaf und der Stromarm mit einer Eisschicht bedeckt. Keine fünf Minuten stehen wir da am Ufer und schon ist der Hafenmeister in Finken mit seinem Lada vor Ort. Auch wenn es verlassen aussieht, aufgepasst wird trotzdem!
Die 200km nach Kasan an der Wolga können wir in flottem Tempo zurücklegen, die Strassen sind ausgezeichnet. Am Himmel können wir hunderte von Wildgänse beobachten, die in der bekannten Deltaformation mit uns nach Norden ziehen. Das lässt uns auf das eintreffen des Frühlings hoffen. Neben dem Sportstadion finden wir dank der iOverlander-App einen, sagen wir mal praktischen Stellplatz. Zum Kremel, dem Wahrzeichen der Stadt sind es ca. 15' zu Fuss.
Bei eisiger «Bise» Unternehmen wir den ersten Stadtmarsch und staunen über das Interessante Stadtbild. Kasan stand in seiner Entwicklung lange im Schatten von Bulgar, konnte sich aber schnell als führender Handelsplatz etablieren. Dank dem Fernhandel wurde es zu einem Schmelztiegel der Völker und deren Religion. Vor der Übernahme durch den russischen Zar, ist der muslimische Kan dem Kalifen von Bagdad verpflichtet gewesen. Der russische Eroberer Ivan der Schreckliche hatte eine glückliche Hand, als er entschied, die Verbindungen ins Morgenland zu nutzen. Seine Pelze gelangten so nach Persien oder noch weiter, bekannte Schifffahrtsrouten konnten weiter genutzt werden und das Gemisch von Muslimen, Armenier, Juden und Russen brachte Unmengen von Steuern an seinen Hof. Im 18. Jahrhundert sind 16 unterschiedliche Religionsgruppen in Kasan bekannt. In heutiger Zeit gibt es dieses vielleicht noch in New York?!
Den Ausflug beschliessen wir im Chak-Chak Teehaus mit einem feinen Tatartee und Gebäck. Gegen den eisigen Wind vom «Nordpool» kämpfen wir uns durch die Strassen zum Autostandplatz.
Der Kremel ist gut zu erreichen, so beginnen wir hier die Besichtigung mit vielen Fotos. Dominierend die beiden Gotteshäuser, die von Ivan dem Schrecklichen in Auftrag gegebene Holzkirche nach dem Einmarsch in die Stadt, wurde in drei Tagen gebaut und ist heute in der Klosteranlage integriert. Als Ersatz ist die Maria- Verkündungs- Kathedrale in aller Pracht errichtet worden. Daneben der Sujumbike-Turm zu Ehren der letzten Regentin des Kasaner Khanats. Die Kul Scharif Moschee, Baubeginn 1552 ist erst zur Jahrtausendfeier in 2005 fertiggestellt worden. Der Spasski- Turm am Haupteingang, ist im 19 Jahrhundert in die weisse Kremelfestung integriert worden und in 1930 mit einem Stern auf der Turmspitze geschmückt. «Der Bevölkerung sei es nicht zumutbar, ein weiteres religiöses Symbol über den Kremel zu stellen» meinte der rote Revolutionsrat.
Weltliche Regierungen sind ebenfalls vertreten. Der alte Khanpalast und einen neueren Regierungssitz für die heutigen Herren.
Danach bummelten wir die Baumanstrasse hinunter bis zum Nizhiny Kaban See mit weiteren sehenswerten Gebäuden. Am See ist das alte Bulgarische Viertel mit einigen noch erhaltenen originalen Holzhäusern.
Am späteren Nachmittag ergatterten wir Plätze für eine Stadtrundfahrt. Der deutsche Kommentar aus dem Kopfhörer machte uns mit weiteren Einzelheiten, auch in den neuen Stadtvierteln, bekannt.
Sehr beeindruckend sind die Sportpaläste. Wir stehen mit dem Auto neben dem Leichtathletikstadion. Da ist auch die Radrennbahn / Ballspielhalle und unter dem Kremel die feste Zirkusarena. In der Neustadt das Tivoli, Familienpalast, Schwimmsporthalle, zweites Tivoli, Wrestling Palast und die neueste Schöpfung für die Fussball WM 2018, die «Kasan Arena». Etwas Befremdend nahmen wir im weiteren Kommentar zur Kenntnis, dass die «praktischen, modernen Wohntürme» von der Bevölkerung geliebt werden… Oder dass die neu entwickelte Verkehrsführung der Stadtautobahn ohne Kreuzungen den Verkehr besser fliessen lässt… (leider wurde der Autobahnzubringer vergessen, wir haben uns 1 Stunde durch ältere Wohnviertel gequält). Die neue Brücke über den Kazanka Fluss hat dafür ein gigantisches Millennium-Beton M… Wie war das mit Brot und Spiele…
Den nächsten Tag gingen wir gemütlich an. Die Museen öffneten erst um 11.00h. Wir besuchten das Tataren Museum, das war sehr gut aufgebaut und bis zur Eroberung der Stadt durch die Russen mega informativ! Dann kam der grosse Ausblender in der Geschichte und ein Kniefall vor den roten Revolutionären. Ein roter Raum und zentral ein übermächtig dargestellter Stalin mit all seinen «Heldentaten» und so am Rande noch etwas Trotzki und Lenin. Ein paar Fotos behandelten die neuere Zeit. Ich war sprachlos, frustriert und wütend! Im Museum für Heimatkunde wurde nichts ausgeblendet. Jedoch sind die Klassenfeinde der roten Revolution auch hier deutlich hervorgehoben. Die rot gefärbte Sonderausstellung galt hier Lenin. Also im kalten Krieg hatte das vielleicht seine Berechtigung, aber der Zug ist doch schon längst abgefahren, sollte man meinen… Dennoch, Kasan ist eine Reise wert, aber obacht, ohne Polarwind!
Auf N 55.71340 / O 49.53899 haben wir unser kurzfristiges Paradies gefunden: Eine wirklich wunderbare Tankstelle, super Sanitäranlagen mit 30' Heisswasserdusche, Waschmaschine und feinem Restaurant. Nach 2 Std. war das Paradies vorbei und mit gefüllten Wassertanks sowie einer Wäscheleine kreuz und quer durch den Giovanni fahren wir weiter Richtung Yelabuga im Südosten von Kasan. Auf den schon beschriebenen weiten Feldern im Land, sieht man jetzt des öfteren Erdölpumpen die das schwarze Gold an die Oberfläche Pumpen.
In Yelabuga müssen wir nach Nordosten abbiegen um die Industriestadt Izevsk zu erreichen. Da bringt uns das Navi aber so richtig in Rage, es leitet uns einfach stur auf einem Pfad in eine Sägerei und will da durch den Lattenzaun in den dahinter liegenden Wald... Wir beweisen dass wir es noch ohne schaffen und finden die richtige Strasse! Nachtruhe ist wieder an einer Tankstelle, ohne Kosten. Ich hätte es nie für möglich gehalten nach einer Tanke zum Schlafen Ausschau zu halten! Aber es ist hier im April einfach unmöglich, einen Platz an einem der vielen Seen o. ä. anzufahren. Es ist neben den befestigten Wegen «Bodenlos» und in der tiefgründigen Erde sinkt das Fahrzeug ein, dann steht man buchstäblich im Walde...
Schön in Hügel und Wald eingebettet an einem See, finden wir die Stahlstadt Izevsk. Ohne Zweifel bringt das Geschäft mit dem Tod ordentlich Mittel in die Stadtkasse. Hier ist das Stahlwerk Kalaschnikov, wo der gleichnamige Ingenieur seine berühmten Waffen entwickelte und hergestellt hat. Das Werk ist immer noch aktiv und dem «Genie» ist ein Museum gewidmet. Da es an unserem Weg nach Perm liegt, besuchen wir die Anlage. Sie liegt mitten in der Stadt, neben einer sehr schönen Kirche und einem Einkaufscenter für Luxusartikel (viele Schweizer Uhren). Im Grauppelschauer stehen wir vor dem Museum und warten auf die Öffnung um 11.00h. In der Kälte schauen wir immer wieder auf die Uhr, wann es den eigentlich so weit sein könnte. Nach etwas warten kommt ein Mann und fragt, ob wir nicht Eintreten möchten. Etwas ratlos schauen wir wieder nach der Zeit, aber fröhlich lacht er und meint es sei geöffnet. Bei der Ansicht der elektronischen Zeitangabe an der Kasse dämmert es auch bei uns, wir haben wieder einmal eine Zeitzone überschritten und müssen unsere Uhren umstellen.
Eine hilfsbereite Dame, der französischen und englischen Sprache mächtig, nimmt uns in Empfang.
Zuerst geht es zur Garderobe um unsere Windjacken abzulegen. Danach an die Kasse wo sie uns empfiehlt, zuerst den Schiessstand zu benützen und das Museum im Anschluss, wegen den erwarteten Besucher in einer Stunde. Sie zeigt uns eine Fibel mit den Waffen, die wir im Keller testen dürfen.
Schnell entscheiden wir uns für die AK 47, ein Schnellfeuergewehr das bei allen roten Revolutionen seit 1947 seine tödliche Rolle spielte. Im Keller wurden wir dann eingewiesen, durften an einem der zwei Tische Platz nehmen und bekamen das Gewehr in die Hand gedrückt. Ich fand es angenehm im Sitzen zu schiessen, insbesondere konnte die Höhe mit verstellbarer Auflage gut fixiert werden.
Fünf Schüsse durften wir auf die etwa 100 Meter entfernte Scheibe abgeben. Am Gewehr selber konnte nichts eingestellt werden, es gab ein Korn und eine Kimme, fertig. Wenn ich mich recht Erinnere, hatten die Geschosse 5,72mm und jeder Schuss verursachte ein starkes Mündungsfeuer mit entsprechendem Gestank.
Nach diesem etwas martialischen Museeumsbesuch geht es weiter Richtung Perm. Da führt uns die Strasse über den Fluss Kama. In einem Schutzhafen liegen ca. 7 grosse Pasagierdamfer im Eis fest. Wir können auf dem Eis im Fluss auch ein paar Eisfischer ausmachen. Perm ist eine Petrochemiestadt. Das Erdöl im weiten Umkreis wird hier in Raffinerien und Chemischen Werken weiterverarbeitet. Für uns lohnt sich ein Besuch kaum, so umfahren wir die Stadt.
Sanfte Hügel, Wald, Wald, etwas Schnee und Grauppelschauer sowie ein eisiger Wind. Ab und zu vergessene Dörfer wo noch mit den Pferdchen oder Kuh der Acker bearbeitet wird, Russland unserer Vorstellung?! Dann wieder eine Tankstelle, super modern, Kreditkarte kein Problem. Aber in dieser Nacht friert uns der Grauwassertank (Abwasser) ein. Einer der zwei Damen hebt am sonnigen Morgen auf meine Rhetorik über die kalte Nacht dreimal die Hand mit gespreizten 5 Fingern, also -15°C.
An der Westflanke des Urals, bei N 58.17.407 / O 056.29.793 erreichen wir den nördlichsten Punkt unserer Reise.
Kurze Zeit danach kommen wir beim Dörfchen Chusajevo zum Gulag Perm 36. In diesem Lager wurden mehrheitlich Ukrainer und Balten «politisch Umerzogen». Ein junger Mann zeigte uns das heute als Museum umfunktionierte Perm 36. Absolute Unmenschlichkeit schlägt uns entgegen! Umerziehen von Menschen, es war eine rücksichtslose Quälerei bis hin zu Dunkelhaft über 30 Tage. Die Kälte musste grausam sein, die Baracken kaum beheizt und ohne Decken für die Häftlinge.
Täglich 8 Stunden Arbeit, 8 Stunden auf Holzbretter schlafen, danach durften die Betten nicht mehr benutzt werden, 8 Stunden freie Zeit ohne etwas, nur politische Fibeln waren erlaubt. Gründe für eine Verurteilung wurde schnell gefunden: Eine Rubelnote mit dem Bild von Stalin beschädigen konnte 3 Jahre einbringen. Äusserungen gegen die Partei 10 Jahre. Erschreckend, das Lager wurde 1942 von Stalin eröffnet und erst mit dem Glasnost 1991 geschlossen. Zwischenzeitlich gab es einige Verbesserungen an der Ausbruchsicherung, sie wurde Elektrotechnisch aufgerüstet. Im weiteren Umkreis gab es 25 weitere Lager. Der junge Mann zeigte uns Berichte aus 1947, in den drei umliegenden Verwaltungsbezirken kamen 750'000 Delinquenten ums Leben. Im Lager geborene Kinder sind fast alle verhungert oder erfroren. Allgemein wurde mit einer Todesrate von 25% gerechnet. Es gab noch schlimmeres in Sibirien, das ist uns bekannt, aber das schlimmste sind doch die vielen jungen «Stalinisten» die sich heute in Russland breit machen! Es war unserem Führer deutlich anzumerken, dass er das nicht nachvollziehen konnte. Seine Familie verlor 2 Menschen im Gulag und dank der «weitsichtigen Führung» von Stalin sind 9 von 10 Geschwistern seiner Grossmutter verhungert. Das Museum ist von Moskau nicht eben erwünscht, die Oblast (Kanton) Regierung fährt aber eine eigene Schiene. «Die Welt soll die Ungerechtigkeiten die uns durch die Zentralregierung aufgezwungen wurde zur Kenntnis nehmen» Wir haben diese Stätte des Grauens nicht in Bezug zu unserer Reiseerfahrung im heutigen Russland bringen können und es Beschäftigt uns bis heute. Angenehmeres wollen wir demnächst aus dem benachbarten Kontinent Berichten...